Ist der Konflikt um die Startbahn West schon Geschichte?
(27. April 2016)
Prof. Dr. Egbert Jahn im Gespräch mit Dr. Freia Anders
„Die Art und Weise, wie von den Beteiligten und der Öffentlichkeit ein Konflikt erlebt und intellektuell und psychisch verarbeitet wird, trägt wesentlich mit zur Vorbereitung der Formen der Konfliktaustragung in kommenden gesellschaftlichen Auseinandersetzungen bei. Deshalb ist auch nach der Inbetriebnahme der Startbahn 18 West […] die wissenschaftliche und öffentliche Beschäftigung mit dem bisher […] schärfsten gesellschaftlichen Zusammenstoß in der jüngeren Geschichte Hessens und der Bundesrepublik vonnöten.“ [1]
Im Mittelpunkt eines Podiumsgesprächs, das im Stadt- und Industriemuseum Rüsselsheim den Auftakt für weitere Veranstaltungen gab, stand die wissenschaftliche Behandlung des Themas in Vergangenheit und Gegenwart. Sieht man von einigen zeitgenössischen sozialwissenschaftlichen Untersuchungen ab, kann man von einem Forschungsdefizit sprechen, da das Thema aus wissenschaftlicher Perspektive bis heute kaum wieder aufgegriffen worden ist.
Der Zeithistoriker und Politikwissenschaftler Prof. Dr. Egbert Jahn stellte sich im Gespräch mit der Zeithistorikerin Dr. Freia Anders dem Spannungsverhältnis zwischen individueller Erfahrung und reflexiver Analyse in seiner Eigenschaft als Wissenschaftler, der politische Interventionen nie gescheut hat. Jahn gehört zu den wenigen Wissenschaftlern, die sich dem Thema bereits in den achtziger Jahren angenommen hatten. Als Leiter des Hessischen Instituts für Friedens- und Konfliktforschung erarbeitete er wissenschaftliche Expertise, die auch Gegenstand einer parlamentarischen Anhörung im Hessischen Landtag wurde. Jahn engagierte sich zudem persönlich – sehr zum Ärgernis der Frankfurter Universitätsleitung – für die „Freie Volksuniversität Startbahn West. Walduniversität Mörfelden-Walldorf“. In der Walduni sollten die Startbahngegner unter anderem auch Methoden „gewaltfreier Aktion“ erlernen.
Dem Pazifismus verbunden, erinnerte Jahn den Konflikt nicht nur als sehr gewaltträchtig, sondern auch als Problem der Mehrheitsdemokratie gegenüber den Bedürfnissen der direkt Betroffenen, das die SPD vor eine Zerreißprobe gestellt habe. Er beschrieb, wie die Gewalterfahrungen im Protest, Studierende radikalisiert hätten, bis hin zu Sympathien für die Aktionsformen der Roten Armee Fraktion. Nach seiner ex-post-Einschätzung war der Widerstand erfolglos, weil es nicht gelungen sei, den Ausbau als nicht erforderlich darzustellen. Eine Chance hätte im Flughafen-Boykott unter der Parole „Wir fliegen nicht“ gelegen. Übrig bleibt die Hoffnung, dass der vergebliche Widerstand das demokratische Bewusstsein in der Bevölkerung erhöht und zu einem „Lernprozess“ in der Geschichte beigetragen hat.
Wie sehr die Erinnerung emotional belastet ist, zeigte die abschließende Diskussion, zu der bekennende Startbahngegner quer durch das breite Bewegungsspektrum – von den GRÜNEN bis zu den Autonomen - erschienen waren. Die unterschiedlichen Betrachtungsweisen über die Legitimität und Erfolgsaussichten von Widerstandsformen, die Beurteilung vergangener Ereignisse und die Deutung der „Gewaltfrage“ prallen bis heute teilweise unversöhnlich aufeinander.
(Freia Anders)
Rezeption in den Medien
mka: Podiumsgespräch zu Protesten gegen die Startbahn West im Museum Rüsselsheim, Main-Spitze, 30.4.2016.
Koslowski, Rüdiger: Protestbewegungen um die Startbahn West. Ein Thema, das die Menschen bis heute bewegt. Rüsselsheimer Echo, 29.4.2016.
Literatur
Beer, Wolfgang: Frieden — Ökologie — Gerechtigkeit: Selbstorganisierte Lernprojekte in der Ökologie- und Friedensbewegung, Opladen 1983, S. 102-120.
Jahn, Egbert: Zum Startbahnkonflikt. Ursachen der Gewalttätigkeiten, Chancen für den regionalen Frieden und Lehren für zukünftige Konflikte, In: Report aus der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, Frankfurt a.M. 1984.
Fußnoten
[1] Jahn, Egbert: Zum Startbahnkonflikt. Ursachen der Gewalttätigkeiten, Chancen für den regionalen Frieden und Lehren für zukünftige Konflikte. In: Report aus der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, April 1984.